Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Roland
Kochs Wette
Das
Land kann alle Rettungspakete vergessen, wenn es kein Rettungspaket
für die Jugend schnürt. Der hessische Ministerpräsident spekuliert
gegen die Jugend - und weiß ganz genau, was er da tut.
Frank Schirrmacher,
F.A.S., 16.05.2010
Es darf keine
„Tabus“ geben? Das klingt nach Volksbühne, aber es stammt aus
dem Munde deutscher Ministerpräsidenten. Gemeint sind: die geplanten
Einsparungen bei Forschung, Bildung und Kinderbetreuung. Als wäre
Bildung, als wäre Familienpolitik ein „Tabu“! Als wären Bildung
und Forschung nicht einer der drangsaliertesten, widersprüchlichsten,
marodesten Bezirke unserer Gesellschaft. Es ist so unangebracht,
dieses billige Wort, als würde einer sagen, es darf keine Tabus
geben, es muss auch mal ohne Sauerstoff funktionieren.
Wer wissen will,
wieso Roland Koch den Generationenkonflikt eröffnet und wieso ihm
als Erstes einfiel, bei Bildung, Forschung und Kinderbetreuung zu
sparen, darf nicht nach Griechenland schauen. Nicht nach Amerika. Er
muss im Kalender genau einen Monat zurückblättern. Wer nicht die
Augen vor seiner persönlichen Zukunft verschließen will, sollte das
schleunigst tun.
Mitte April wurden
die Ergebnisse einer Studie des Max-Planck-Instituts für Demographie
bekannt (MPI für demographische Forschung). Sie gingen, ausgelöst
durch einen kundigen Artikel von Matthias Kamann, durch die Presse,
aber wurden, wie es schien, politisch kaum rezipiert. Der Anschein
trog. Denn Roland Koch muss vor einem Monat seine Schlüsse gezogen
haben. Keiner analysiert Datensätze aufmerksamer als er. Keiner weiß
besser, in welcher Straße, in welchem Haus, in welchem Stockwerk und
an welcher Wohnungstür er sein CDU-Material ausliefern lassen muss,
damit es eine messbare Wirkung hat.
Er ist ein Meister
der Zielgruppendemokratie, und er hat ein Gespür für
Mehrheitsmeinungen, die sich so lange nicht trauen, Meinung zu sein,
ehe einer nicht den Aufreger spielt. „Ich habe offenbar das
Privileg, Menschen aufregen zu können. Das nutze ich . . .“, sagt
er im aktuellen „Spiegel“. Die Studie von Harald Wilkoszewski
muss ihm und etlichen anderen die Erkenntnis vermittelt haben, dass
die Zeit reif sei für ein sozialpsychologisches Experiment: Wie sehr
haben sich die Interessen der alternden Gesellschaft bereits
verwandelt?
Wilkoszewski räumte
in seiner grundlegenden empirischen Studie mit einer frommen
Lebenslüge unserer Gesellschaft auf: Älteren ist es in zunehmendem
Maße gleichgültig, wie es jungen Familien, Heranwachsenden und
Studierenden geht. Und diese Älteren sind das entscheidende
Wählerpotential der Zukunft. Die Zustimmungsrate, etwa zu
Kindergelderhöhungen, ist bei einem 65-Jährigen um 85 Prozent
geringer als bei einem 25-Jährigen. Fragen der Kinderbetreuung,
Bildung und wahrscheinlich auch jeder Form von Forschung, die nicht
im weitesten Sinne medizinisch ist, spielen eine immer geringere
Rolle.
Das widersprach
allen bisherigen Erkenntnissen, aber es widersprach mit gutem Grund:
Denn fast alle bisherigen Studien zur Generationensolidarität
beschränkten sich auf den Raum der Familie. Würden der Großvater,
die Großmutter für die Enkel, die Eltern für die Kinder und die
Kinder für die Eltern aufkommen wollen? Familienbande sind das eine
- lässt man die systematische Verfälschung außer acht; denn wer
würde eigentlich bei einer solchen Frage angeben, dass er sich nicht
um seine Familie kümmern würde? -; aber die Gesellschaft, in die
wir heineinaltern werden, wird insbesondere in den relevanten
Wählerschichten eine ganz andere sein. Die Zahl kinder- oder
enkelloser Älterer wächst immer stärker - beide Gruppen, so hat
das Max-Planck-Institut herausgefunden, sind die Antriebsaggregate
neuer Werteorientierungen. Aber auch jenseits davon ist aufgrund
längerer Lebenserwartung, höherer Gesundheitskosten, wachsender
Separierung der Generationen ein neuer, gleichsam biologisch
induzierter Egoismus vorgegeben, der sich durch Sonntagsreden nicht
zähmen lassen wird.
Die Ressource Zeit
schwindet trotz längerer Lebenserwartung dramatisch. Das wiederum
verkürzt Zukunft. Jeder Sechzigjährige weiß, dass er keinen
größeren Kredit mehr bekommt (das Musterbeispiel von
Zukunftsplanung), weil seine Lebenszeit niemals ausreichen wird, ihn
abzubezahlen. Was aber heißt das für eine Gesellschaft, in der sich
die Zahl der über 65-Jährigen in den nächsten Jahrzehnten auf ein
Drittel der Gesamtgesellschaft verdoppeln wird? So hat der typische
Wähler - anders als in einer jungen Gesellschaft - immer nur das
Gefühl, etwas zu verlieren, nicht etwas gewinnen zu können. Er
bestimmt das Lebensgefühl der Gesellschaft. Max Frisch hat, als er
selbst über fünfzig Jahre alt war, das Psychogramm einer solchen
Gesellschaft in seinem berühmten Fragebogen formuliert: „Sind Sie
sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und
alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?“
Kochs Intervention
markiert den Übertritt der Politik in diesen Zeithorizont. Denn er -
und mit ihm eine Reihe von Ministerpräsidenten - bietet dem Land
eine Wette an. Das sollte jeder wissen, der sich mit seinen
Forderungen nach Einsparungen bei Bildung, Forschung und
Kinderbetreuung befasst. Die Wette lautet: Der Altersaufbau - die
demographische Struktur - der Gesellschaft ist so, dass die Mehrheit
der Wähler kein wirkliches Interesse an einer Zukunft hat, die
länger als zwanzig Jahre auf sich warten lässt.
Koch hält mit
seinen Prioritäten auch keineswegs hinter dem Berg: „Was wäre
wohl los gewesen“, sagt er im „Spiegel“, „wenn ich zuerst
über die rund 80 Milliarden Euro staatlichen Zuschüsse zur
Rentenversicherung gesprochen hätte? Dann wären Vertreter der
älteren Generation mit derselben Empörung über mich hergefallen
wie jetzt die Bildungspolitiker.“
Er sagt die lautere
Wahrheit: Im ersten Fall wären die Alten über ihn hergefallen, im
zweiten sind es nicht etwa die jungen Menschen, sondern nur die
Bildungspolitiker. Denn die kritische Masse der jungen Menschen und
ihrer Familien reicht offenbar schon nicht mehr aus, Protest zu
formulieren. Deshalb ist Koch auch keineswegs „mutig“ und greift
„Tabus“ an - er verschiebt in die nächste Generation, was er
heute nicht lösen will. Dabei gibt es für eine alternde
Gesellschaft nach einhelliger Meinung aller Experten nur eine einzige
Rettung: in die Bildungskarrieren der nächsten Generation zu
investieren. Wer Anregungen sucht, schaue sich die entsprechenden
Kurven in Pakistan oder Singapur an. Besteht die nächste Generation,
wie in Deutschland, in immer stärkerem Maße aus Angehörigen
bildungsferner Schichten, dann ist dieser Auftrag eine Frage des
Überlebens. Und genau das, wozu man Politik, die ihren Namen
verdient, braucht.
Es gibt keinen
dritten Weg. Keine Zuwanderung, keine Lebensarbeitszeitverlängerung
löst das Problem, und die aktuelle Krise ist nichts im Vergleich zu
dem, was Deutschland bevorsteht, wenn das Land im Jahre 2025 (das
sind 15 Jahre!) seine wenigen jungen Menschen überwiegend schlecht
ausgebildet auf einen Arbeitsmarkt entlässt, der die alimentieren
muss, die heute immer noch nicht die Zeichen der Zeit erkannt haben.
Statt jeden Tag den aktuellen Stand des Goldpreises, die Charts des
Dax und des Dow Jones zu präsentieren, sollten jeden Abend die
Kurven der demographischen Entwicklung eingeblendet werden. Kein
großer Aufwand, denn sie verändern sich nicht. Aber es hätte den
Vorteil, dass dann auch Dreißigjährige erkennen würden, dass die
Debatte um die Ausbildung der künftigen Generation, um
Kinderbetreuung und Forschung, eine Debatte um ihr eigenes Altern
ist.
Jeder Dreißigjährige
kann heute schon feststellen, wie viele Dreißigjährige es in
Deutschland noch gibt, wenn er sechzig ist. Zieht man davon all jene
ab, die keine Ausbildung haben werden, und all die, die eine
Ausbildung haben, aber ein bildungsschwaches Land verlassen werden,
dann wird er sich keine Illusion mehr darüber machen, dass Kochs
Intervention nicht eine Intervention unter anderen ist: Sie betrifft
ihn, allein schon wegen der Trägheitseffekte demographischen
Wandels, existentiell.
Die politische
Spekulation ist offenkundig: Sähe man Deutschland als einen
Menschen, so wäre es ein Mensch, der - erstmals in der Geschichte
unseres Landes - mehr Lebenszeit hinter sich als vor sich hat. Ein
solches Kollektiv stellt vieles von dem auf den Kopf, was man bisher
für Naturgesetze einer Gesellschaft gehalten hat. Um 2015 wird sich
die Zahl der ersten großen Rentnergeneration mit der immer geringer
werdenden Anzahl neuer Berufseinsteiger überschneiden. Viele sagen,
sie merken noch gar nichts.
Aber das hat damit
zu tun, dass die Babyboomer auf dem Höhepunkt ihrer
Leistungsfähigkeit sind. Es genügt, sich ab und zu den Lebenszyklus
des Geburtsjahrgangs 1964 - des letzten großen geburtenstarken
Jahrgangs - vor Augen zu halten. Er geht in zwanzig Jahren in Rente -
genau die Zeit, die man braucht, um eine neue Generation vernünftig
auszubilden. Was 2030, wenn keiner der heute aktiven Politiker mehr
im Amt ist, mit uns geschieht, entscheidet sich jetzt.
Aufgabe von Politik
ist es, den eigensüchtigen Interessen einer alternden Gesellschaften
gerade dann entgegenzuwirken, wenn sie nicht mehr
Partikularinteressen, sondern Interessen der Wählermehrheit einer
Gesellschaft sind. Dazu zählt, dass sie Prioritäten setzt;
vielleicht kann sie gar nicht mehr als das. Roland Koch hat mit
erstaunlicher Kurzsichtigkeit ausdrücklich als erste Priorität die
Bildung genannt und auch die nur funktional. Bildung ist nicht nur
Schule und Studium - Bildung heißt, die Interessen dadurch zu
relativieren, dass man sich mit anderen vergleicht. Ein Bürgertum,
das auf sich hält, kann da nicht mitmachen. Honoriert es eine
Politik der kurzfristigen Belohnung, handelt es nicht besser als die
Spekulanten. Das Land muss begreifen, dass es alle Rettungspakete
vergessen kann, wenn es nicht ein Rettungspaket für die junge
Generation, für Bildung und Forschung schnürt. Was bisher geschehen
ist, reicht in Wahrheit bei weitem nicht.
„Geld
ist nicht alles“, sagt der sächsische Ministerpräsident Tillich.
Eben, wir warten seit Jahren darauf, dass Bildung mehr ist als Geld,
aber genau dazu braucht es Geld - angefangen von der Verkleinerung
der Schulklassen (statt der klammheimlichen Zusammenlegung ganzer
Schulen) bis zu einer Reform der Prozesse, die im Begriff sind, in
den Universitäten ganze Generationen von effizienzoptimierten
Akademikern zu züchten, die keine Ab- und Irrwege gehen dürfen. Die
Vorschläge füllen ganze Bibliotheken, aber sie haben alle eines
gemeinsam: Bildung der Jungen entscheidet die Zukunft der heute
Arbeitenden. Kochs Wette steht im Raum. Wir können uns bei ihm nicht
mehr beschweren, wenn die Spekulation aufgeht.
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